Absolutes Gehör:

Jeden Ton erkennen, jeden Ton benennen

Johann Sebastian Bach hatte es. Und Ludwig van Beethoven auch: das absolute Gehör. Nur einer von 10.000 Erwachsenen in Europa und den USA besitzt es – obwohl nach aktuellem Stand der Wissenschaft fast jeder Mensch die Veranlagung zum absoluten Gehör hat. Mit Abschluss der Sprachenentwicklung verliert sich dieses Können aber meistens wieder. Hat ein Mensch als Kind allerdings eine sogenannte Tonsprache als Muttersprache gelernt, ist die Veranlagung für ein absolutes Gehör stärker ausgeprägt. Bei einer Tonsprache wie dem chinesischen Mandarin kann ein Wort je nach Tonlage völlig verschiedene Bedeutungen haben, es kommt auf präzises Sprechen und Hören an. Asiatische Kinder trainieren so Gehör und Gehirn bereits sehr früh – offenbar eine wichtige Voraussetzung zur Ausbildung eines absoluten Gehörs.

 

Doch was ist ein absolutes Gehör überhaupt? Ein Mensch mit dieser Fähigkeit kann einen einzelnen Musikton präzise benennen und in ein Tonsystem einordnen. Einen Referenzton, etwa ein durch eine Stimmgabel erzeugtes A, benötigt er dazu nicht.

Die Gründe für ein absolutes Gehör

Wer hat ein absolutes Gehör? Auf jeden Fall ist es unter Asiaten verbreiteter als unter Menschen aus anderen Kulturkreisen. US-Forscher haben in Studien den bereits erwähnten Zusammenhang mit dem Erlernen einer Tonsprache festgestellt. Menschen, die von klein auf eine solche Sprache erlernen, besitzen viel öfter ein absolutes Gehör als solche mit einer anderen Muttersprache. Dazu verglichen die Wissenschaftler Musikstudenten einer amerikanischen Universität mit Musikstudenten aus China. Das Ergebnis: Von den chinesischen Nachwuchsmusikern besass über die Hälfte ein absolutes Gehör, die Studenten aus den USA brachten es dagegen nur auf sieben Prozent.1

Neben asiatischen Sprachen wie Mandarin und Kantonesisch gehören auch regionale afrikanische Sprachen zu den Tonsprachen, etwa Bantu und Swahili. Ob es bei den Sprechern ebenfalls eine grössere Veranlagung für ein absolutes Gehör gibt, wurde bislang noch nicht untersucht.

Andere Forscher halten genetische Gründe für verantwortlich. Sie vertreten die These, dass ein absolutes Gehör angeboren ist. So wurde in einer nicht repräsentativen Studie bei Menschen mit absoluten Gehör ein vergrösserter Bereich in der linken Gehirnhälfte festgestellt. Dieser Bereich, das Planum temporale, ist für die Verarbeitung von Geräuschen zuständig.2 Weitere Forschungsergebnisse weisen auf einen Zusammenhang zwischen bestimmten Chromosomen und dem absoluten Gehör hin.3

Ein absolutes Gehör ist für Musikalität keine Bedingung

Ein absolutes Gehör ist bei Musikern nicht Voraussetzung, um es zum Ausnahmetalent zu bringen. Selbst unter den berühmten Meistern der E-Musik besass nicht jeder ein absolutes Gehör: Glenn Gould und Wolfgang Amadeus Mozart zählten dazu – Robert Schumann und Richard Wagner nicht. Musikalische Meisterwerke haben sie alle erschaffen.

1 Deutsch D, Henthorn T, Marvin E, Xu H-S: "Absolute pitch among American and Chinese conservatory students: Prevalence differences, and evidence for a speech-related critical period". In: Journal of the Acoustical Society of America 2006. 119 (2): 719–722
2 Keenan JP, Thangaraj V, Halpern AR, Schlaug G: "Absolute pitch and planum temporale". In: Neuroimage. 2001 Dec;14(6):1402-8.
3 Theusch E, Basu A, Gitschier J: "Genome-wide Study of Families with Absolute Pitch Reveals Linkage to 8q24.21 and Locus Heterogeneity". In: Am J Hum Genet. 2009 Jul 10; 85(1): 112–119.